Anita v. Hoffmann Gräfin v. Hoffmansegg, geb. v. Stülpnagel [XIII/189] (1893-1965)

Frauen halten das Leben am Laufen!

„Frauen halten das Leben am Laufen“ – nicht nur in Krankenhäusern, in Pflegeheimen und in Zeiten von Corona! Auch 1945, in den Wirren von Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs, schulterten Frauen die Hauptlast für das (Über-) Leben ihrer Familien und „standen ihren Mann“. Weil viele Männer gefallen oder in Gefangenschaft waren, mussten sich Kinder und Frauen oft allein auf den Weg machen. Dabei machte der Stand keinen Unterschied: Flucht und Vertreibung von Angehörigen adeliger Familien gliederten sich ein in die Flucht und Vertreibung von mindestens 14 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges bzw. danach. Die Organisation der Flucht übernahmen dabei zumeist Frauen – wie z.B Anita von Hoffmann Gräfin von Hoffmansegg, geb. v. Stülpnagel und deren Tochter Waltraud.

Am 27. April 1945, morgens um 4.30 Uhr, verließ Anita mit den im Herrenhaus einquartierten Soldaten einer Flak-Instandsetzungs-Brigade mit einem Auto Lübbenow, gefolgt von vielen Menschen mit überladenen Treckwagen. Schon zwei Stunden später hatten die Russen das Dorf besetzt. Auf der Flucht durch Mecklenburg traf sie auf einem Gut bei Rehna ihre Tochter Heida (XIV/243), die schon im Februar mit dem Treck ihrer Schwester Waltraud (XIV/246) vorausgefahren war, und ihren Sohn Carlfried (XIV/245), der mit einer Armverwundung aus dem Lazarett in Eberswalde entlassen und zu Fuß in Rehna angekommen war. In Lübeck wäre die Flucht fast in letzter Minute gescheitert, denn die Brücken über den Elbe-Trave-Kanal waren gesperrt worden, um die Überfüllung Holsteins zu verhindern. Aber ein englischer Captain, der mit großem Respekt von Anitas Vetter Carl-Heinrich in Paris und seiner Behandlung der feindlichen Truppen redete, ermöglichte Anita den Übergang über die Brücke. Am 11. Juni traf Anita im Auto endlich in Wandsbek ein, Adelheid und Carlfried mit Waltrauds Treckwagen zwei Tage später. Hier stand Anita das wie durch ein Wunder erhalten gebliebene Haus ihrer verstorbenen Mutter zur Verfügung, während die ganze Umgebung durch die zahlreichen Bombenangriffe in Trümmern lag. (…).

(aus: Geschichte des Geschlechts v. Stülpnagel, 2009, S. 165 f.)

Auch wenn der Verlust an Eigentum, Einfluss und Privilegien beim Adel beträchtlich schien, war er doch „abgefederter“ im Vergleich zu anderen Flüchtlingsgruppen. Manche Familie konnte sich weiterhin ein Kindermädchen oder ein Hausdame leisten, oft konnten die Frauen aus ihren Erfahrungen in der Gutswirtschaft schöpfen, wo sie dem Küchenpersonal Anweisungen gegeben und Lehrlinge mit ausgebildet hatten. Und ihre Erziehung sagte ihnen: nicht aufgeben, sondern anpacken. Oder auch: wir schaffen das!

(Geschichte des Geschlechts v. Stülpnagel, 2009, S. 219)

Adelige Familien verfügten über „soziales und kulturelles Kapital“, das ihnen Chancen eröffnete, die andere nicht hatten. Dieses soziale Kapital zeigte sich schon während der Organisierung und Durchführung der Trecks: so zogen sie trotz langer Strecken häufig von Gut zu Gut gen Westen, machten häufig bei Verwandten auf ebenfalls bedrohten Gütern Halt, wurden so gut es ging ernährt und konnten noch in bedrohlichen Situationen auf „frühere Netzwerke“ zurückgreifen. Sogar noch in den Westzonen zogen sie häufig zunächst zu anderen Gütern, ehe sich die Trecks auflösten und die Einzelnen allein oder bei Verwandten eine neue Ausgangsbasis erhielten.

„Nachdem die Rote Armee die Oder erreicht hatte, flüchtete Waltraud am 30. Januar 1945 mit ihren beiden Kindern, der Kinderfrau Hedwig Piotrowski und dem notwendigen Hausrat von Hermersdorf (bei Lebus) über Lübbenow, Lübeck nach Hamburg, während ihr Mann Wilhelm (…) in Hermersdorf zurückblieb, um die Güter weiter zu bewirtschaften. Den Transport mit einem Pferdegespann von Lübbenow nach Lübeck führte Waltrauds jüngere Schwester Adelheid, der das Gelingen der Flucht maßgeblich zu verdanken ist. Ab Juli 1945 sammelte sich die gesamte Familie um ihre Mutter Anita in dem unzerstört gebliebenen Haus in Wandsbek. (…) Im Frühjahr 1949 zog sie mit den inzwischen drei Kindern nach Stadtoldendorf, wo sie unter bescheidenen Verhältnissen wieder ihren eigenen Haushalt führte. (… )Unter dem Verlust der Lebenswelt in Lübbenow und Hermersdorf litt Waltraut Zeit ihres Lebens.“

(aus: Geschichte des Geschlechts v. Stülpnagel, 2009, S. 212 f.)

Auch wenn die „Stülpnagel-Frauen“ über verwandtschaftliche Verbindungen verfügten, die andere Gruppierungen vielleicht nicht oder nicht in diesem Ausmaß besaßen, schmälert dies in keinem Fall die Verluste, Leiden und enormen Anstrengungen, die sie wie alle anderen Frauen erlitten, auf sich genommen und gemeistert haben und die den militärischen Leistungen ihrer männlichen Familienmitglieder in nichts nachstanden.

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